Was soll man anfangen mit den Denkmälern einer untergegangenen Diktatur?
Die Lenin-Statuen in vielen Teilen des ehemaligen Ostblocks sind fast komplett verschwunden, viele von ihnen wurden jüngst in der Ukraine abgeräumt. Im Gegensatz dazu steht ein Held der untergegangenen DDR bis heute mitten im stark gentrifizierten Berliner Innenstadt-Bezirk Prenzlauer Berg fest auf seinem Sockel: der deutsche Kommunistenführer Ernst Thälmann. 1886 in Hamburg geboren, wurde er nach 11 Haftjahren vermutlich im August 1944 in nationalsozialistsicher Haft getötet. Die genauen Umstände seines Todes liegen im Dunkeln.
In Denkmalsgestalt kündet der einstige Chef der Kommunistischen Partei Deutschlands mit geballter Faust vom Sieg eines Menschen neuen Typs. Damit sorgt er seit Jahrzehnten für Zündstoff. Thälmann hatte seine Partei bedingungslos dem Führungsanspruch der Kommunistischen Partei der Sowjetunion unterworfen, also Lenin und Stalin. Nach dem Ende der DDR sollte er eigentlich weg.
Doch für den 1993 beschlossenen Abriss erwies sich der anachronistische Koloss aus 50 Tonnen Bronze (eine gesamte DDR-Jahresproduktion!) als schlichtweg zu massig. So blieb er aus Kostengründen stehen, etwas verloren, ein von vielen ungeliebtes Erbstück, politisch und künstlerisch von jeher umstritten.
Seit 2014 steht fest: Thälmann bleibt. Der Kopf mit Faust und Fahne genießen Denkmalschutz - gemeinsam mit dem umliegenden Park sowie den Wohn- und Funktionsbauten, die allesamt den Namen Thälmann tragen und im vierten und letzten Jahrzehnt der DDR gebaut wurden. Anstelle einer Denkmals-Abtragung hat die Stadt Berlin der Welt nun diesen Film geschenkt. Er entstand im Rahmen des Kunstprojektes VOM SOCKEL DENKEN zur künstlerischen Kommentierung des Monuments.
Regisseurin Betina Kuntzsch erzählt in ihrem Film zehn Geschichten, die lose miteinander verbunden sind. Um mit dem Ende zu beginnen: Die feierliche Enthüllung der Thälmann-Bronze fand in Anwesenheit von reichlich DDR-Obrigkeit am 15. April 1986 statt, zur Feier von Thälmanns 100. Geburtstag. Erschaffen hatte sie einer der höchstdekorierten Künstler der Sowjetunion, Lew Jefimowitsch Kerbel, aus dessen Werstatt auch das Karl-Marx-Denkmal im heutigen Chemnitz stammt. Kerbel wurde 1917 im heutigen Semeniwka des ukrainischen Oblast Tschernihiw geboren und starb 2003 in Moskau.
So unumstößlich fest heute das Thälmann-Denkmal steht, so sehr wankte zur Zeit seiner Einweihung das sowjetische Imperium. Im März 1985 war mit Michail Gorbatschow ein Reformkommunist in den Kreml eingezogen. Keine zwei Wochen nach der Denkmals-Weihe ereignete sich an der Grenze zwischen der ukrainischen und der belarusischen Sowjetrepublik in Tschernobyl der bis heute verheerendste Kernkraft-Unfall der Geschichte. Die Katastrophe und der verheerende Umgang mit ihr schwächten das Mutterland des Kommunismus weiter. 1989 verschwand unter tatkräftiger Mitwirkung von DDR-Bürgern der eiserne Vorhang, woraufhin der aus Moskau geführte Ostblock mit rasender Geschwindigkeit zusammenbrach.
Kurz vor diesem unerwarteten Ende vollbrachten DDR-Bürger und Sowjetsoldaten im rund um die Thälmann-Wohntürme noch eine gemeinsame gute Tat. Ein Bewohner und Hobby-Chronist der Anlage erzählt, wie die neu eingezogenen Mieter der Hochhäuser das Areal bepflanzten - und dabei nicht allein blieben. Mehrfach wurden eine Hundertschaft "Russen" zum Helfen an ihre Seite beordert - Angehörige der in der DDR stationierten Sowjetischen Streitkräfte. Wie viele unter ihnen wohl Ukrainer, Balten, Belarusen, Georgier oder gar Burjaken oder Tschetschenen waren?
Für Regisseurin Betina Kuntzsch ist der Blick auf das Denkmal und seine Umgebung auf ganz besondere Weise persönliche geprägt. Die 1963 Geborene stammt selbst aus dem Kiez. Als sie ein Kind war, stand dort, wo heute Thälmann thront, noch eine große Gasanstalt. Zu der gehörten drei majestätische alte Gasometer, Industriekathedralen aus der Bismarck-Zeit zum Zwecke der Gasspeicherung. Nachd Stillegung der Gasanstalt 1981 beschloss die Ostberliner Obrigkeit, das alte Werk fast vollständig abzureißen, und mit ihm auch die Gasometer. Dagegen erhob sich vielstimmiger Protest in für DDR-Verhältnisse erheblicher Lautstärke. Wie die Gethsemanekirche und ein florierendes Künstlermilieu trug dieser Widerstand dazu bei, dass der Prenzlauer Berg in den 1980er Jahren als Hort quicklebendiger Bohème galt - ein Ruf, der nicht erst in den 1990er Jahren Zuzügler aller Art wie ein Magnet anzog.
Betina Kuntzsch bettet ihre eigenen Erinnerungen sowie die Erzählungen von Freunden, Schulkameradinnen, Anwohnern und Nutzern in ein multi-perspektivisches historisches Kaleidoskop ein. Dazu gehört auch eine collagierte Erzählung, die sie Ernst Thälmanns Tochter Irma in den Mund legt und die den KPD-Führer vom heroischen Sockel hebt. Zur historischen Wahrheit von "Teddy" Thälmann gehören eine sehr menschliche private Geschichte und eiserne Moskautreue des Hamburgers, die ihm Stalin allerdings nicht dankte. Irma Thälmann, die Zeit des Bestehens der DDR von Berufs wegen Tochter ihres Vaters blieb, wehrte sich nach 1989 heftig gegen diese Entmystifizierung.
Kuntzsch richtet den Blick ihres Kaleidoskops auch zurück in die Zeit ab 1871. Bismarck wird Kanzler, Berlin steigt auf - nicht zuletzt dank der technischen Wunder aus Kohle, Stahl und Ziegeln. Gas auf Kohlebasis erleuchtet Laternen, spendet Wärme; gasbetriebene Bügeleisen verleihen sogar Hemden ein frisches Knistern. Nach dem 2. Weltkrieg wird die Fabrik aus Kaiserzeiten unter sozialistischem Vorzeichen weiterbetrieben. Zum Zeitpunkt ihrer Stillegung hatte seit mehr als 200 Jahren Energie geliefert, auf nicht gerade umweltfreundliche Art. Ab 1985 ersetzte im Ostteil Berlins sowjetisches Erdgas die Kohlenvergasung.
KOPF FAUST FAHNE dreht elegant Schleifen durch offizielle und Alltags-Geschichte, mischt Berliner Lokalkolorit mit deutscher und globaler Geschichte. Mit schwebender Leichtigkeit, aber tiefschürfend kombiniert sie liebevoll gestaltete Animationen mit klug ausgewählten privaten und öffentlichen Archivalien, Memoirentexten, historische Fotografien, Filmausschnitten und Dokumenten. Zum visuellen und intellektuellen Vergnügen gesellt sich die Wahl der Tonalität der Erzählung, die sich jedem Kapitel perfekt anpasst. Gelegentlich kommentiert Kuntzsch mit sehr beiläufiger Berliner Schnauze, die in der gentrifizierten Gegenwart des Prenzlauer Bergs so gut wie ausgestorben ist.
Weiterführend zum Thema und ebenfalls auf filmfriend verfügbar:
LICHTER AUS DEM HINTERGRUND, Dok-Film von Helga Reidemeister, DE 1998
DIE ARCHITEKTEN von Peter Kahane, DDR 1989/90
Verfasserangabe:
Kamera: Martin Langer; Regie: Betina Kuntzsch; Montage: Betina Kuntzsch; Drehbuch: Betina Kuntzsch; Produktion: Maria Wischnewski
Jahr:
2023
Verlag:
Potsdam, filmwerte GmbH
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1 Online-Ressource (49 min), Bild: 16:9 HD
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