"The crying light" ist eine Platte der Zwischenwelten, eher ein hin- und hergerissenes als ein zerrissenes Album - und packt dieses Thema doch sehr viel existentialistischer und poetischer an, als es über den bloßen Zugang von Ruhm und Ehre möglich wäre. Stattdessen geht es auf "The crying light" um Leben und Tod, so wie es auf jeder guten Platte um Leben und Tod geht. Das Cover zeigt den japanischen Butoh-Tänzer Kazuo Ohno, 102, der seit Jahren als lebende Leiche in seinem Körper gefangen ist, unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen. Antony singt "I need another world/ This one's nearly gone" und widmet ihm ein Album über die Unausweichlichkeit, die Notwendigkeit - und das Erwarten - des Verlusts.
Die Charaktere auf "The crying light" stecken fest zwischen Winter und Frühling, angefangenen Enden, Küssen und Tränen, Gegenwart und Gegenwelt. Augen werden hier vor allem benutzt, um nach innen zu blicken, die Natur ist oft nur Ziel, selten Schauplatz, und so sind es natürlich sehr introspektive Lieder, die Antony diesmal singt. Nichts an "The crying light" ist pompös, kein Ton prätentiös, und doch kann es eine unglaubliche Macht entwickeln, allein durch das Temperament, mit dem Antony etwa den zweiten Refrain von "Daylight and the sun" singt. Seine Stimme ist dieses Album, seine Stimme ist diese Musik. Sie wackelt und vibriert weiterhin unter den Anstrengungen, die Antony ihr auflädt. Sie ist aber auch ungezügelt, beinahe ungezogen, wenn das Harfen- und Klavierintro von "Aeon" Platz macht für einen E-Gitarrenwalzer mit Fingerschnipsen und Vocals, die aus allen Stilrichtungen und Stimmungslagen gleichzeitig kommen.
"The crying light" überwindet Genres und ihre Grenzen genauso einfach wie Antony den Erwartungsspieß umdreht. Als Liebeslied an einen lange unidentifizierten Mann verrät "Aeon" erst mit seinen letzten neun Zeilen, dass es für Antonys Vater geschrieben wurde. "Epilepsy is dancing" gibt sich ebenso selbstbewussten wie beklemmenden Gedanken hin, wenn es in den Anfällen seines Protagonisten erkennt, was sein Titel vorwegnimmt, die Krankheit zur Kunst macht und dabei längst nicht nur mit der Wimper zuckt. Und auch "Kiss my name" weiß viel von vorgeschobener Leichtfüßigkeit und einer Bewegungsfreiheit, die Antonys Texte immer nur anstreben, aber niemals erreichen können. Wo er ist, bleibt kein Platz mehr. Wenn auf diesem Album die Gastsänger fehlen, dann ist das so, weil sie nicht mehr draufgepasst haben.
Trotzdem ist Antony niemals alleine in seiner allgegenwärtigen Präsenz. Mehr als 20 Musiker spielen auf "The crying light", die Instrumente haben in neun von zehn Songs mehr mit Klassik und Jazz als Rock'n'Roll zu tun, aber sie schichten und stapeln nicht, stehen nicht bloß nebeneinander, sondern finden eine natürliche Gemeinsamkeit, wegen der das orchestral aufgewühlte Finale von "Everglade" genauso nackt und klar klingt wie vorher das A-Capella-Stück "Dust and water". Was genau in diesen Liedern passiert, verliert deshalb jede Bedeutung. Was zählt ist nur, wie viel Antony aus ihnen herausholt. Vielleicht ist er wirklich nicht mehr das, was er einmal war. Aber: Wenn es ihn jetzt auf die Friedhöfe zieht, dann wird er dort einen Grabstein nach dem anderen erweichen. (Quelle: Plattentests.de)
Jahr:
2009
Verlag:
[s.l.], P-Vine
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Systematik:
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TM 713
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Beschreibung:
1 CD (TT 39:24) + Text-Beil.
Schlagwörter:
ROCK/POP
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Fußnote:
Texte abgedr.
Mediengruppe:
CD